Damals. Gerade volljährig und regelrecht besessen von der Vorstellung einen Roadtrip über den roten Kontinent zu machen. Ich wollte mit Aborigines am Lagerfeuer sitzen und mir das Didgeridoo spielen beibringen lassen, Friedenspfeife rauchen und nachts unter dem funkelnden Sternenhimmel im Outback einschlafen. So oder so ähnlich.
Ich besuchte Vorträge, in denen Reisende von Down Under berichteten und schmückte meine Illusionen immer weiter mit hübschen Details aus. Ich auf einem fremden Kontinent. Dann kam irgendwie alles anders. Ein Ausbildungsplatz, der mir den Grundstein für die Zukunft legen sollte. Die vermeintlich erste große Liebe, die zu riskieren gewesen wäre. Vielleicht aber nur schlichtweg der mangelnde Mut für einen derartig großen Schritt in die weite Welt!? Ich kann es gar nicht genau sagen. Es blieb einzig und allein bei den Träumereien. Und das für eine ganze Weile.
Erst ziemlich genau 10 Jahre später haben Daniel und ich es gemeinsam ans andere Ende der Welt geschafft. Die Messlatte lag enorm hoch. Drei Wochen an der Ostküste. Kängurus – ja sogar Koalas in freier Wildbahn, menschenleere Strände so weit das Auge reicht und Camping unter Sternenhimmel in einem gemieteten ausgebauten Van. All das und noch viel mehr. Die Zeit verging viel zu schnell ehe wir es überhaupt nur ansatzweise ins Outback geschafft hätten. Australien ist einfach eine Nummer zu groß. Wir kommen wieder, haben wir gesagt.

„Mit 30 noch ein Working Holiday Visum?“
Das war so ziemlich der erste Gedanke, der uns beiden durch den Kopf schoss. „Warum eigentlich nicht?“, meinte Daniel. „Geben wir der Sache eine Chance.“ Gesagt, getan. Vier Wochen später und gerade noch pünktlich zur Einreise halten wir unser Visum mit dem Status „genehmigt“ in den Händen – ahnungslos, was uns in den nächsten Monaten erwarten wird, dennoch überglücklich.
Auf unserer ursprünglichen Weltreise-Route war Australien höchstens für einen mehrtägigen Stopover geplant. Mehr nicht. Das hatte folgenden Hauptgrund: Als Reisende war uns Australien schlichtweg zu teuer. Da bietet z.B. Asien mehr für´s Geld. Ein längerer Aufenthalt oder genauer gesagt die Work and Holiday Option ist mehr oder weniger einem Zusammenspiel aus gepaarten Zufällen geschuldet. Die Hochzeit von Freunden in Melbourne, deren Einladung wir ganz nach dem Motto „wenn wir schon mal in der Ecke sind“ dankend angenommen haben, war sicherlich der ausschlaggebende Impuls. Die Monate bis dato müssen schließlich „überbrückt“ werden. Zudem kam, dass sich unsere Freundin aus München sowie meine Schwester, ebenfalls für ein Work & Holiday in Australien angekündigt haben. Argumente genug, um ernsthaft darüber nachzudenken.

Halbzeit. Wir befinden uns seit mittlerweile mehr als einem halben Jahr in Australien. Bereuen keine Sekunde – ganz im Gegenteil. Sind unendlich dankbar dafür, dass wir die letzte Chance auf ein Working Holiday Visums ergriffen haben und finden uns keineswegs „zu alt“ dafür. Wir treffen auf so viele wundervolle Menschen im gleichen Alter mit ähnlichem Hintergrund: Mit beiden Beinen festverankert im Job, indem die Flucht aus dem gewohnten Alltagstrott und das Verlangen nach Freiheit zunehmend überhand genommen hat. Das verbindet.
Hallo Montag, da bist du wieder.
Der Wecker klingelt um 5:40 Uhr in Down Under. Für die letzten Monate gemein ungewöhnlich. Arbeitsbeginn ist pünktlich um 7:30 Uhr. Und keine Minute später. Auf dem Weg zur Arbeit hüpfen Kängurus durch die an die Straße angrenzenden Felder. Kurz nachdem die geteerte Straße in einen Feldweg mit roter Erde mündet, biegen wir rechts auf den hier als einzig gelegenen Hof ab. Mandarinen und Zitronenbäume zieren das Anwesen. Hinter dem Haus das Gehege der Kiwi- und Weintraubenbäume so weit das Auge reicht.

In lauten Schritten stampfen wir durch die kniehohen Gräser. Wachsam und die Augen überall. Bei jedem Schritt. Immer wieder schießen uns die Worte des Supervisors durch den Kopf. Schließlich sind wir im Land der handflächen-großen Spinnen und lebensgefährlichen Schlangen. Da sollte man für sämtliche Überraschungen zumindest vorbereitet sein. „Yes, we do have snakes“. Viele davon sind für den Menschen harmlos. Wie diese bis zu 3m lange Python, die sich in den Kiwibäumen herumtreibt und die Mäuse anhand ihrer Laufwege aufspürt, um nachts ihre Beute aus dem Hinterhalt anzugreifen. Andere wie die Dugite können gefährlich werden, suchen in der Regel jedoch rechtzeitig das Weite, sobald sie Vibrationen auf dem Boden verspüren. Von daher: Immer fest auftreten. Bis auf die Tiger Snake. Sie lasse sich von nichts und niemanden beeindrucken und verhält sich dahingehend tendenziell angriffslustig. Okaaay.
Wir machen uns an die Arbeit. Daniel beim tip crushing – wie man es im Fachjargon bezeichnen würde. Auf deutsch: Zwischen Mittelfinger und Daumen zerquetscht er die neuen Triebe der emporragenden Äste, um Wildwuchs der Kiwibäume zu vermeiden. Ich beim Fruit Thinning, d.h. ich bewahre sowie Qualität und Quantität der heranwachsenden Kiwifrüchte, indem ich gründlich aussortiere und alle missgeformten Früchte abschneide. Das Ergebnis sind maximal 25- 30 und perfekt rund geformte Mini-Kiwis pro Ast. Klingt nach einer Arbeit die keine großartige körperliche Anstrengung erfordert. Und das ist sie auch. Nur beansprucht das lange Stehen und die Kopfüberarbeit Muskelzonen unseres Körpers, von denen wir bisher nicht gewusst haben, dass sie überhaupt existieren. Tiger Balm und hochdosierte Magnesium-Präparate sind in den nächsten Tagen unsere besten Freunde.

Um uns herum ist es friedlich still. So still, dass wir das leise Blätterrascheln in den Bäumen verspüren, wenn die seichte Brise vom unweit entfernten Meer durchzieht. Wir hören jeden einzelnen Grashüpfer im vertrockneten Gras springen und nehmen sogar die Flügelschläge der über uns fliegenden Elstern wahr. Wenn wir ehrlich sind, so still wie gerade ist es selten um uns herum. Nicht nur die Vögel, sondern auch die Gedanken kreisen, während die einzelnen Handgriffe wenige Stunden später in einen monotonen Automatismus übergehen.
Dann dieses Zischen, ich zucke im Moment zusammen. Schlange, wo? Komplett aus den Gedanken gerissen schaue ich adhoc zu Boden und versuche die Geräuschkulisse zu lokalisieren. Keine Schlange. Nur das Bewässerungssystem.
Same procedure, different day
Ein paar Tage später. Routine stellt sich ein. Was für die letzten zehn Monate ein Fremdwort für uns geworden ist, ist plötzlich wieder allgegenwärtig. So mit fester Homebase (zumindest vorübergehend), eigenem Auto und einem full-time Job. Diesmal jedoch unter völlig anderen Umständen. Wir verausgaben uns tagsüber und fallen abends total erschöpft ins Bett. Das fühlt sich verdammt gut an.
Warum wir gezielt für Jobs wie dieser auf der Farm oder unser erster Job hier in Australien als Aushilfe bei einem Event Ausschau halten – und uns eben bewusst nicht für einen Job in unserem üblichen Tätigkeitsbereich umsehen – hat einen Grund. Wir sind damals losgezogen, um uns kopfüber in ein Abenteuer zu stürzen. Ein Abenteuer voller neuer Erfahrungen, unter völlig anderen Umständen und in einem völlig anderen Umfeld. Wir genießen es momentan sehr, den Tag über an der frischen Luft zu verbringen, finden es super spannend auch mal hinter die Kulissen zu blicken und finden es gleichzeitig bemerkenswert wie viel Handarbeit hinter dem Produkt im Supermarktregal steckt. Wir lernen viel über Dinge, die wir vielleicht sonst niemals so hinterfragt hätten, wie wir es jetzt tun.
Während die Kiwibäume für die Erntesaison angemessen vorbereitet werden, beginnt parallel die Vorarbeit bei den Weintrauben: Leaf Plucking – heißt übersetzt Entblättern. Und genau das beschreibt diesen Job ganz gut. Blätter abreißen. Und das den ganzen Tag lang. Mit bloßen Händen greife ich in den Blätterdschungel und knipse alle Blätter unterhalb der angehenden Trauben zwischen Zeigefinger und Daumen ab. Das Entblättern hilft Fäulnis vorzubeugen durch die verbesserte Luftzirkulation in der sogenannten Traubenzone. Diese Prozedur zielt im Wesentlichen auf einen verbesserten Reifeprozess und damit eine höhere Qualität der Trauben hin.

Wenige Monate später ist es dann soweit: Die Ernte steht an. Aber bis dahin gönnen wir uns zwei Monate Verschnaufpause von unseren Strapazen und gehen unserer Leidenschaft nach. Das Reisen.
Und das, meine Lieben, genießen wir am Allermeisten an diesen Gelegenheits- bzw. saisonalen Jobs: Die Flexibilität. Ungebunden und ohne Vertragsbindung, jederzeit die Möglichkeit haben wieder aufzubrechen. Denn neben dem bemerkenswert hohen Verdienst bei unserer Farmarbeit, hindert uns nichts und niemand daran, von heute auf morgen unsere sieben Sachen zu packen, um weiterzuziehen. In ein neues Abenteuer. Auf einen Roadtrip über den roten Kontinent. Mit Aborigines am Lagerfeuer zu sitzen und uns das Didgeridoo spielen beibringen zu lassen, Friedenspfeife zu rauchen und nachts unter dem funkelnden Sternenhimmel im Outback einzuschlafen. So oder so ähnlich
See you on the road. Over and out.